Wieviele Sitzungen sollte ich mir Zeit lassen, bis ich meine Behandlungsentscheidung treffe?

Zu Beginn des Kontakts mit Patient*innen gibt es sowohl formale/organisatorische als auch individuelle und behandlungstechnische Rahmenbedingungen, die den Verlauf der Gespräche bestimmen und sich auf den Zeitpunkt Ihrer Behandlungsentscheidung auswirken.

In aller Kürze: die Fakten nach der Psychotherapie-Richtlinie bzw. dem EBM
Formal müssen Sie, um eine Psychotherapie beantragen zu können, wenigstens zwei probatorische Sitzungen führen. Der Antrag kann jedoch bereits gestellt werden, sobald Sie die zweite Sitzung fest vereinbart haben. Dieses Datum tragen Sie dann in das Formular PTV1 ein.

Weitere zwei (bis zum 21. Lebensjahr vier) probatorische Sitzungen können Sie darüber hinaus verwenden, um sich zu entscheiden, ob und wie Sie mit einem/einer Patient*in arbeiten können und wollen, falls Sie sich noch nicht sicher sind.

Zusammen mit den maximal drei Sprechstunden-Terminen à 50 min. sowie weiteren drei Sitzungen, die Sie pro Quartal als psychotherapeutische Gespräche abrechnen können (d.h. 3×5-mal die Ziffer 23220), haben Sie somit insgesamt 10 Sitzungen für Ihre Behandlungsentscheidung zur Verfügung, die Sie als nicht antragspflichtige Leistungen mit der Versicherung Ihres Patienten bzw. Ihrer Patientin abrechnen können.

Die Frage, die den Hintergrund dieses Beitrags bildet, und die ich im Folgenden beantworten möchte, stammt von einem Mitglied des Nachfragewerks:

Kann man bereits nach einer probatorischen Sitzung wissen, dass man mit diesem Patienten gut arbeiten kann – oder eben nicht?

Nach meiner Einschätzung ist das durchaus möglich. Das hängt jedoch z.B. davon ab, wie viel Erfahrung Sie mit der Führung von Erstgesprächen haben, und wie geübt Sie sich darin fühlen, Ihre eigenen Gedanken und Gefühle während des Gesprächs daraufhin zu untersuchen, ob eine Arbeit mit diesem/dieser Patient*in gelingen könnte.

Ich empfehle Ihnen grunsätzlich, sich wenigstens eine weitere Sitzung zu „gönnen“ und sich zwischen diesen beiden Gesprächen etwas Zeit (ca. 15-20 min. wenigstens) zu nehmen, um sich in Ruhe mit Ihren Eindrücken aus dem Erstgespräch zu beschäftigen. Am besten geschieht dies nach meiner Erfahrung zunächst ohne Ihre Aufzeichnungen, die Sie vermutlich recht bald nach dem Erstkontakt angefertigt haben. (Über das Für und Wider von Notizen während des Erstgesprächs habe ich einen eigenen Beitrag geschrieben: Mitschreiben oder nicht?)

Versuchen Sie dabei einmal, folgende Fragen zu beantworten:

  • Woran erinnere ich mich als Erstes, und was taucht an Gefühlen aus dem Erstgespräch als Erstes auf?
  • Verfüge ich bereits über eine erste Hypothese, was ein zentrales Problem dieses Patienten/dieser Patientin ist?
  • Kann ich mir vorstellen, mit ihm/ihr an diesem zentralen Problem erfolgreich zu arbeiten? Woran würde ich mögliche Schwierigkeiten festmachen?
  • Habe ich den Eindruck, dass diese*r Patient*in eine erste Idee davon hat, was ihm fehlt?
  • Habe ich das Gefühl, dass diese*r Patient*in mit mir an diesem ersten, zentralen Problem wird arbeiten können? Womit könnte er/sie bei mir Schwierigkeiten bekommen?
  • Verfüge ich schon über eine erste beziehungsdynamische Hypothese, die etwas über die Art und Weise aussagt, wie diese*r Patient*in mit mir, mit seiner Frau, seinen Kindern, seinem Chef, seinen Eltern umgeht? Gleiches gilt natürlich auch für eine Patientin und ihren Mann, ihre Kinder, ihre Chefin usw.

Analysieren Sie Ihre Notizen aus dem Erstkontakt

Mit diesen Fragen bzw. Ihren Antworten im Hinterkopf lesen Sie noch einmal Ihre Aufzeichnungen. Gibt es etwas, das Ihnen beim Nachdenken wieder eingefallen ist, das in den Notizen nach der Stunde fehlt? Etwas, das einem „entfällt“, hat oft eine tiefere Bedeutung.

Überlegen Sie sich, was das sein könnte. Versuchen Sie, sich davon eine innere Notiz zu machen, mit der Sie dann in die folgende Stunde gehen, ohne es jedoch bewusst präsent zu halten. So aufbereitet, wird es Ihnen von selbst einfallen, wenn es im Material der zweiten Stunde eine Verknüpfung gibt, bewusst oder unbewusst.

Bewertungskriterien für oder gegen eine schnelle Behandlungsentscheidung

Je mehr Schwierigkeiten sich schon auf den ersten Blick abzeichnen, desto mehr Zeit sollten Sie sich nehmen.

Je umfänglicher die Planungen und Überlegungen sind, die Sie alleine oder gemeinsam mit Ihren Patient*innen auf diese Weise anstellen müssen, desto mehr Stunden werden Sie voraussichtlich auch benötigen, um zu einer für beide günstigen Behandlungsvereinbarung zu kommen.

Das kann die Auswahl der möglichen Sitzungstermine betreffen, die für beide geeignet sind, aber auch die Frage der Frequenz und den Umgang mit Ausfallhonoraren.

Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich bei der Beantwortung dieser Fragen oder der Lösung dieser Aufgaben nicht drängen zu lassen.

Was ist, wenn ich mir trotz mehrerer Gesprächstermine nicht sicher bin?

Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie mit diesem Patienten mehr Zeit benötigen, als durch die oben genannte Anzahl an Sitzungen besteht, trauen Sie sich, dem Patienten das zu sagen, und offen mit Ihm zu besprechen, wofür Sie noch mehr Zeit für notwendig halten. Lassen Sie den/die Patient*in dann entscheiden, ob er/sie sich diese Zeit nehmen möchte. Vielleicht gibt es bei ihm/ihr bisher unausgesprochene Schwierigkeiten, über die Sie dann besser miteinander sprechen können, wenn sie explizit dazu angeregt haben, danach zu suchen?

Hilfreich kann in diesem Fall auch eine Intervision oder Supervision sein. Oft lassen sich Ihre Zweifel klären, wenn Sie jemand Drittem den Verlauf Ihrer Erstkontakte schildern.

Fazit

Auch wenn es prinzipiell möglich ist, sich innerhalb des Erstkontakts für oder gegen eine Behandlung zu entscheiden, sollten Sie sich nach Möglichkeit wenigstens eine weitere Stunde Zeit nehmen, um sich einen zweiten Eindruck zu verschaffen.

Fortführende Informationen zur kassenärztlichen bzw. -psychotherapeutischen Versorgung finden Sie zum Beispiel bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.

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